70 Jahre OZ
Ostfriesland = völlig unterschätztes Kulturland!?
Über Ostfriesen, da kann man Witze machen und außer einer Teekultur ist die Halbinsel auch eher kulturlos. Stimmt das? Der Versuch einer Annäherung an das Kulturland Ostfriesland mit Annie Heger, Holger Müller und Raoul-Philipp Schmidt von den Gezeitenkonzerten.
Für was ist Ostfriesland eigentlich über seine Grenzen hinaus bekannt? Otto Waalkes, Tee, Ostfriesenwitze und die Inseln – zumindest dürften das die landläufigen Assoziationen sein, wenn das Wort Ostfriesland fällt. Doch seit Jahrzehnten mausert sich die Halbinsel auch immer mehr zu einer kulturellen Region, die eine immer stärkere Strahlkraft entwickelt – und auch zunehmend für ihre Vielfalt wahrgenommen wird.
Es ist schier unmöglich, allen Kulturveranstaltern und -orten in einem Artikel gerecht zu werden. Vom kleinen bis zum großen Museum, von der Live-Musik in der Kneipe, in Kirchen und Gulfhöfen bis hin zu den großen Konzerten und Veranstaltungen in der Auricher Sparkassen-Arena, dem Leeraner Zollhaus oder der Emder Nordseehalle. Doch was macht das Kulturland Ostfriesland aus? Wir haben drei Kulturschaffende gefragt.
Das ostfriesische Publikum
„Alles, was etwas anders ist, das wird von den Ostfriesen gut angenommen“, sagt beispielsweise Holger Müller, den viele als „Ausbilder Schmidt“ kennen dürften. Doch der 51-Jährige hat noch viel mehr im Repertoire – und einen seiner Wohnsitze in der Krummhörn. Experimentierfreudig seien die Ostfriesen, „Lust auf Schräges“ hätten sie – und Lust auf Abwechslung. „Auch wenn ich kaum selbst Veranstaltungen besuchen kann, ich bekomme schon mit: Hier gibt es ein relativ großes Programm“, sagt Müller.
Für die gebürtige Auricherin Annie Heger zeichnet die Ostfriesen vor allem aus, „dass sie dir nach dem Auftritt immer noch etwas sagen wollen“, egal ob nun Lob oder Kritik. „Aufstehen und gehen, das tut hier niemand“, ist ihre Erfahrung. Nur mit der Komik, das sei manchmal so eine Sache. „Ostfriesen beben innerlich oft vor Lachen, zeigen es aber nicht unbedingt nach außen.“
Die Wahrnehmung Ostfrieslands
Doch was dringt nach außen? Nur der Pilsumer Leuchtturm, der in der Erfahrung von Holger Müller „eine unglaubliche Strahlkraft hat“, und Otto Waalkes? Die Wahrnehmung durch Nicht-Ostfriesen ist tatsächlich mitunter ein Problem, ist sich Heger sicher. Sie ist zwar überzeugt: „Ostfriesland ist definitiv eine kulturelle Hochburg.“ Allerdings: „Aber eine unterschätzte.“ Unterschätzt werde sie dabei nicht von den Ostfriesen. Vielmehr seien es die, die Ostfriesland auf Ostfriesenwitze reduzieren, ist die Musikerin, Kabarettistin, Schauspielerin, Moderatorin und begeisterte Plattschnackerin überzeugt. „Wir scheinen oft noch auf Döntjes, Waalkes und Krabbenbrötchen reduziert zu werden“, stellt sie mit Bedauern fest. Dabei hätten schon Frauen wie Wilhelmine Siefkes oder Greta Schoon vor Jahrzehnten in ihren Texten gezeigt, wie weitsichtig und unterschiedlich die Menschen hier sind – und gleichzeitig das Plattdeutsche schon weit über den Status des Döntjes erhoben. Da schlägt bei Heger vor allem die Liebe zu ihrer „Herzenssprache“ Plattdeutsch durch. Dass Plattdeutsch mehr als nur Klamauk ist, das zeigen Heger, Jan Cornelius, aber auch Youtuber und Blogger in den vergangenen Jahren immer und immer wieder – und bereichern so das kulturelle Leben.
Die Weite Ostfrieslands nutzt eines der hochkulturellen Leuchtturmprojekte: die Gezeitenkonzerte. Und damit beweisen die Organisatoren seit einigen Jahren ziemliche Weitsicht. „Wir gehen in die Fläche und bespielen wunderbare, auch kleine Kulturorte mit renommierten Künstlern“, sagt Raoul-Philipp Schmidt. Der 39-Jährige organisiert seit 2019 die Gezeitenkonzerte. „Wir bieten etwas, was es sonst eher in Großstädten gibt“, sagt Schmidt, „und bedienen dabei nicht nur die klassische Hochkultur“.
Die ostfriesische Vielfalt
Aber nicht nur die Vielfalt innerhalb eines Angebots wie den Gezeitenkonzerten ist es, was für Schmidt Ostfriesland zum Kulturland macht. „Es gibt so viele Perlen in der Region“, sagt er. Als Beispiele nennt er den Orgelfrühling in der Krummhörn, aber auch die „kommerzielle Kultur“, wie sie in den größeren Hallen gespielt wird.
Doch nicht nur in „normalen Zeiten“ könne sich das kulturelle Leben Ostfrieslands blicken lassen, sind sich die drei Gesprächspartnerinnen und -partner einig. In der Corona-Krise, die den Kulturbetrieb besonders nachhaltig störte und stört, zeige sich, dass Ostfriesland auch Kultur anders angehen kann. Die Gezeitenkonzerte sind auf Streamingformate umgestiegen – und Annie Heger freute sich über die Flexibilität „der altehrwürdigen Institution Ostfriesische Landschaft“. Was hier auch in Bezug auf den plattdeutschen Monat „digital gewuppt“ wurde, darauf sei sie „sehr stolz“.
Die Zukunft der ostfriesischen Kultur
Aber was birgt die Zukunft für das Kulturland Ostfriesland? Für Heger ist klar, was die Kultur aus der Region über die Experimentierfreude und die besonderen Veranstaltungsorte hinaus ausmacht: „unsere Herzenssprache!“ Bei allem, was an Innovation entsteht, solle die Region ihre Wurzeln nicht vergessen. „Das wünsche ich mir für die Zukunft“, sagt sie. „Wir sind Plattopoliten“ und obgleich das Plattdeutsche immer mehr aus dem Alltag verschwinde, gebe es mittlerweile eine Gegenbewegung, die sich – auch online – ein plattdeutsches Metropolis erschaffe.
Für Holger Müller ist es derweil wichtig, dass auch an die Touristen gedacht wird. „Orgel-Frühling, Schlickschlitten-Rennen: All das ist für Touristen interessant und wichtig“, sagt er. Schmidt wünscht sich, dass das ostfriesische Publikum seine Offenheit behält – und dass Auswärtige weiter zahlreich auf die Halbinsel kommen.
Die ostfriesische Infrastruktur
Apropos nach Ostfriesland kommen: Was das angeht, dürfe man die jungen Leute nicht vergessen, betont wiederum Heger. Gemeint ist damit nicht das Programm, sondern die Mobilität. „Ich würde den Heranwachsenden in Ostfriesland wünschen, nicht immer auf die Eltern angewiesen zu sein.“ Fehlender öffentlicher Nahverkehr sei ein Problem.
„Wenn es mehr Züge oder Busse gäbe, dann wäre das Schaffen, aber auch das Genießen von Kultur so viel einfacher“, sagt Annie Heger, die sich selbst übrigens als überzeugte Nicht-Autofahrerin bezeichnet. Denn die Wege in Ostfriesland seien lang – und ohne Auto nicht immer zu schaffen.
Was bleibt, was kommt?
In den vergangenen 70 Jahren hat Ostfriesland viel an Kultur gesehen. Theaterstücke wurden aufgeführt, Ottos Filme kamen in die Kinos, Museen wurden gegründet oder neu gestaltet, die Kunsthalle Emden wurde eröffnet, Popper, Rocker, Punks, Schlagerfans, Hip-Hopper oder Emos bestimmten Bild und Musik in Discotheken. Die Beatsteaks auf der Abifete in Aurich, Die Ärzte in der stickigen Nordseehalle, Enno Bunger, Jan Cornelius, der Youtuber Taddl, H. P. Baxxter, die Kelly Family auf dem Auricher Marktplatz, Konzerte in kleinen Kneipen, Knallfrosch Elektro, Anstehen am Zollhaus, das Pixxen-Festival oder die zahlreichen hiesigen Musiker – das kulturelle Angebot in Ostfriesland ist im steten Fluss. Trends und Musikerinnen und Musiker kamen und gingen, Veranstaltungsorte öffneten und schlossen wieder. Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Entwicklung der kulturellen Szene können derweil noch gar nicht abgeschätzt werden, das 70. Jahr ist ein Jahr der Ausnahmen und Herausforderungen.
„Wir kämpfen aktuell um jeden Zuschauer“, sagt Müller, der unter anderem mit seinem „Lachbus ohne Bus“ unterwegs ist. Heger, die im Oktober zum Klönschnack im Leeraner Zollhaus erwartet wird, blickt ebenfalls gespannt in die Zukunft. „Es sind schwierige Zeiten“, auch wenn die ersten kulturellen Veranstaltungen wieder laufen. Im September schrieb Heger auf Facebook, „dass unser berufliches Leben noch lange nicht wieder einer Normalität entsprechen wird“ – selbst wenn es wieder Auftritte gebe.