Berlin/Frankfurt/Wiesbaden (dpa)

Festnahme im Fall „NSU 2.0“ - Viele Fragen noch offen

Eva Krafczyk, dpa
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Von Eva Krafczyk, dpa
| 04.05.2021 07:31 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Nach zweieinhalb Jahren und mehr als 100 Drohschreiben endlich ein Durchbruch im Fall „NSU 2.0“? Ein 53 Jahre alter Mann in Berlin wurde festgenommen. Noch müssen aber viele Fragen geklärt werden.

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) reagierte prompt nach der nächtlichen Bekanntgabe der Festnahme eines Verdächtigen im Fall der „NSU 2.0“-Drohschreiben.

„Sollte sich der dringende Tatverdacht gegen den 53-jährigen Berliner bestätigen, ist das ein ganz herausragender Ermittlungserfolg der hessischen Strafverfolgungsbehörden“, hieß es in einer Stellungnahme.

Ganz anders war es noch nach dem ersten Drohschreiben an die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz im August 2018 - dessen Existenz wurde erst im Dezember 2018 durch Medienberichte bekannt, ebenso die Information, dass persönliche Daten der Juristin von einem Polizeicomputer in einem Frankfurter Revier abgerufen worden waren.

Dem ersten Schreiben waren weit über hundert andere gefolgt, nicht nur an Basay-Yildiz, sondern auch an die Kabarettistin Idil Baydar, Linken-Politikerin Janine Wissler und andere. Mit der Unterschrift „NSU 2.0“ wurde direkter Bezug auf die rechtsextremistische Terrorzelle genommen. Basay-Yildiz hatte im NSU-Prozess als Nebenklagevertreter Hinterbliebene der NSU-Mordserie vertreten. Der nun Festgenommene ist ein arbeitsloser Mann mit viel Zeit am Computer - ein Einzeltäter oder doch jemand mit Verbindungen von Berlin nach Hessen?

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft und das Hessische Landeskriminalamt ermittelten seit mehr als zweieinhalb Jahren. Der öffentliche Druck nahm zu, vor allem als feststand, dass in drei Fällen persönliche Daten von Polizeirechnern abgerufen wurden, denen später „NSU 2.0“ Drohschreiben folgten.

Dass im Zuge der Ermittlungen zur Bedrohung von Basay-Yildiz auch eine Chatgruppe mit rechten und rassistischen Inhalten innerhalb der Polizei aufgedeckt wurde, erhöhte die Sorge. Im Juli 2020 schloss selbst Innenminister Beuth nicht länger aus, dass es ein rechtes Netzwerk in der hessischen Polizei geben könnte.

Am Dienstag klang Beuth dann wieder ganz anders: „Nach allem was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die NSU 2.0-Drohmailserie verantwortlich“, hieß es in seiner Stellungnahme.

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) zeigte sich nicht nur erleichtert über die Festnahme, sondern sprach von einem Generalverdacht, unter dem insbesondere die hessische Polizei gestanden habe. „Wir haben eine öffentliche Entschuldigung verdient“, so der hessische GdP-Landesvorsitzende Jens Mohrherr. „Das permanente öffentliche Unterstellen, die hessischen Polizeibeschäftigten seien Teil eines rechten Netzwerkes, lastet schwer auf den Rücken meiner Kolleginnen und Kollegen. Sie stehen jeden Tag und in jeder Nacht im medialen Fokus. Sie müssen sich beschimpfen, beleidigen, bespucken und auch schwer verletzen lassen.“

Basay-Yildiz jedoch zeigte sich zunächst nicht überzeugt von der Einzeltäter-These: „Für mich bleiben nach wie vor zu viele Fragen offen“, sagte sie dem „Spiegel“. „Wie kommt ein Tatverdächtiger in Berlin an die unstreitig im 1. Frankfurter Revier abgerufenen Daten?“, fragt die Juristin. „Und vor allem: Wie kommt er danach auch noch an meine neue und gesperrte Adresse?“

Viele Fragen sind weiterhin offen, betonte auch Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Linken im Hessischen Landtag. „Für uns gibt es jetzt die Chance, aufzuklären, in welchem Zusammenhang die Datenabfrage mit dem Festgenommenen steht.“ Bei dem ersten Schreiben und der Abfrage von Daten der Frankfurter Anwältin habe nur ein zeitlicher Abstand von eineinhalb Stunden zwischen Datenabfrage und Drohfax gelegen. Nach bisherigen Erkenntnissen habe es damals eine komplette Datenabfrage der gesamten Familie von Basay-Yildiz gegeben.

Im Zuge der Gesamtermittlungen gab es mehr als 70 Ermittlungen gegen Polizeibeamte, die teils eingestellt wurden wegen unbegründetem Verdacht, teils aber auch mit Entlassungen und Suspendierungen endeten. Das ist jetzt eine Chance, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Die gesamte Polizei sei im Übrigen nie beschuldigt worden.

Klärungsbedarf gibt es auch noch zur Frage, wie der nun festgenommene Verdächtige an Daten herangekommen sein könnte, die mit Sperrvermerken versehen waren, wie etwa die Privatadresse von Basay-Yildiz. „Das zu klären, ist aus meiner Sicht genauso wichtig wie zu klären, wie es im Fall (der Berliner Kabarettistin) Idil Baydar gleich zwei Abfragen gegeben hat, von einer Berliner und einer Wiesbadener Polizeibehörde“, sagte Schaus.

„Das sind alles offene Fragen, die jetzt angegangen werden müssen, auch Verbindungen zur hessischen Polizei.“ Mit der Festnahme des 53-Jährigen bestehe nun aber endlich eine Chance zur Aufklärung der Drohserie.

© dpa-infocom, dpa:210504-99-457290/9

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